La parole prononcée fait foi (ce contenu n'est pas disponible en français)

Sehr geehrter Herr Nationalrat,
sehr geehrter Herr Bundesgerichtspräsident,
verehrter Herr Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, verehrter Herr Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte,
sehr geehrte Frau Generaldirektorin,
sehr geehrter Herr Botschafter,
geschätzte Vertreterinnen und Vertreter aus Lehre, Praxis und Verwaltung,
lieber Michael

Wie Sie wissen, bin ich nicht Jurist. Und damit hier in dieser Runde heute sozusagen «Keiner unter Vielen». Im Bundesrat bin ich wenigstens «Einer unter Siebnen».

Die juristische Würdigung der Europäischen Menschenrechtskonvention überlasse ich daher gerne Ihnen, geschätzte Expertinnen und Experten.

Etwas ist aber unbestritten, selbst unter Juristinnen und Juristen - und das will etwas heissen: Die EMRK ist nicht nur ein völkerrechtlicher Vertrag. Sie ist viel mehr als das. Sie ist eine der grössten zivilisatorischen Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit.

Die EMRK entstand 1950. Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs waren noch sehr präsent. Die Menschen standen unter dem Eindruck der Verbrechen von Diktaturen, insbesondere dem Holocaust. Man war sich einig: Nie wieder! - so etwas darf sich niemals wiederholen. Dafür braucht es einen verbindlichen Schutz der Menschenrechte.

Diese Einsicht ist historisch. Jahrhundertelang herrschten zwischen Europas Mächten Krieg und Feindseligkeiten. Doch die Verantwortlichen in der Nachkriegszeit wählten den Weg der Versöhnung und der Integration. Europa sollte ein Hort des Friedens und der Stabilität werden. Die EMRK hat dazu einen unschätzbaren Beitrag geleistet. Sie ist ein «Nie wieder!» in Gesetzesform.

Und sie ist das erste verbindliche Abkommen, welches die Staaten Europas vereinte - und zwar über ihre nationalen Interessen hinaus.

Aber eben, ich habe es schon gesagt, die EMRK ist viel mehr als ein völkerrechtlicher Vertrag:

Sie ist ein zentraler Werte-Kompass unseres Kontinents:
In einer globalisierten Welt schafft sie eine gemeinsame Identität, die über die nationale hinausgeht.
Sie stärkt die Demokratie und den Rechtsstaat:
Sie macht für alle klar, dass ein Staat seine Macht nicht willkürlich brauchen darf. Tut er das trotzdem, gibt sie den Menschen die Möglichkeit, ihre Rechte einzuklagen - und das gegen den eigenen Staat.
Sie ist ein Katalysator für gesellschaftlichen und politischen Wandel. Nach dem Kalten Krieg mussten die Staaten Osteuropas die EMRK ratifizieren, um Mitglied des Europarats zu werden. Das beschleunigte - zusammen mit der europäischen Integration - demokratische Reformen.
Sie stärkt die Zivilgesellschaft: Wer Rechte hat und diese einfordern kann, gestaltet die Gesellschaft eher mit. Die EMRK bestärkt Bürgerrechtsbewegungen und Nichtregierungsorganisationen in ihrem Engagement.

Und schliesslich hat die EMRK eine Bedeutung für die ganze Welt:

Staaten einigen sich auf universelle und verbindliche Menschenrechte, ein internationales Gericht wacht darüber. Oder anders gesagt: Einzelpersonen können gegen einen Staat Beschwerde einreichen - das ist in dieser Form einzigartig. Die EMRK zeigt, was beim Schutz von Menschenrechten möglich ist.

Ich weiss, ich habe Ihnen gerade nichts Neues erzählt.

Aber den Wert der EMRK für Europa und die Welt kann man nicht genug betonen. Erst recht heute, wo wir 50 Jahre Beitritt der Schweiz feiern. Und erst recht in unruhigen und unübersichtlichen Zeiten wie diesen!

Mit der künstlichen Intelligenz steht uns eine grosse technologische Revolution bevor - vielleicht die grösste überhaupt. Sie wird uns als Gesellschaft und die Menschenrechte stark herausfordern. Und auch politisch stehen die Zeichen auf Sturm: Autokratische Bewegungen und Ideen haben plötzlich wieder Aufwind - sogar in stabilen und traditionsreichen Demokratien.

Es ist paradox: Die Schöpferinnen und Schöpfer der Idee von universellen Menschenrechten wünschten sich nichts mehr, als dass die Menschenrechte einmal für alle selbstverständlich werden. Aber heute ist vielleicht genau das das Problem: Wir nehmen die Menschenrechte für selbstverständlich.

Aber Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind niemals selbstverständlich. Sie müssen verteidigt und immer wieder neu erkämpft werden. Wir müssen für die Meinungsfreiheit, für den Schutz von Minderheiten, für den Rechtsstaat einstehen. Die Gewährleistung der Menschenrechte ist das Wesensmerkmal demokratisch verfasster Staaten. Sie unterscheidet uns von Diktaturen und Unrechtsstaaten, die auf dem Vormarsch sind.

Das letzte Mal feierte die Schweiz die EMRK vor 10 Jahren. Damals war die Weltlage eine andere, die politische Stimmung optimistischer. Kritik an der EMRK gab es aber auch damals. Es gibt sie eigentlich schon seit der Debatte über einen Beitritt der Schweiz zur Konvention.

Die Schweiz war zwar eine Pionierin im humanitären Völkerrecht. Bei den internationalen Menschenrechten blieb sie aber lange zurückhaltend. In seinem Geschäftsbericht von 1949 erwähnte der Bundesrat die seinerzeit entstehenden Menschenrechtserklärungen nicht. Wohl aber eine Ausstellung der Landesbibliothek darüber.

«Die Menschenrechte der Nachkriegsjahre waren Museumsobjekte, nicht Gegenstand schweizerischer Aussenpolitik» - so formulieren es die beiden Staatsrechtler Andreas Kley und Martin Sigrist.

Bemerkenswert ist auch die Karriere des Begriffs der «fremden Richter». Er stammt aus dem Bundesbrief und feierte mit der geistigen Landesverteidigung ein Revival. Als die Bundesversammlung dem Beitritt der Schweiz zur EMRK im Oktober 1974 schliesslich zustimmte, debattierte sie vorher ausgiebig - auch über «fremde Richter».

Es gab auch Stimmen, die ein Spannungsfeld zwischen den Menschenrechten und der direkten Demokratie sahen. Stimmen, die die demokratische Legitimation des Beitritts der Schweiz in Frage stellten - und eine Volksabstimmung forderten, obwohl die damalige Verfassung keine vorsah.

Und später gab es Stimmen, die nach einem unliebsamen Entscheid des EGMR den Austritt der Schweiz aus der EMRK forderten. Nach dem Urteil «Belilos» etwa scheiterte eine entsprechende Motion im Ständerat nur knapp, mit 15 zu 16 Stimmen. Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht - aber mir kommt das alles sehr bekannt vor.

Doch was wäre das für eine Schweiz, eine Schweiz ohne EMRK?

Man könnte ja argumentieren, die Bundesverfassung biete den Bürgerinnen und Bürgern praktisch den gleichen Schutz wie die EMRK und es brauche diese deshalb eigentlich gar nicht.

Ich antworte auf diese Frage mit Gegenfragen: Wäre das Frauenstimmrecht 1971 eingeführt worden, wenn der Druck der EMRK nicht gewesen wäre? Hätten wir heute eine Religionsfreiheit ohne Ausnahme? Wäre das Redaktionsgeheimnis für Journalistinnen und Journalisten von der Verfassung geschützt? Und hätten wir eine verfassungsmässige Rechtsweggarantie - also das Recht, einen Rechtsstreit von einer richterlichen Behörde beurteilen zu lassen?

Meine Damen und Herren,

Was man - glaube ich - sagen kann: Die Politik hat die EMRK wohl unterschätzt. Nichts verdeutlicht das besser als der Ausspruch des damaligen Aussenministers Pierre Graber. Es sei unvorstellbar, dass die Schweiz mit ihren hohen Standards wegen einer Verletzung der Menschenrechte verurteilt werde, sagte er.

Wir alle wissen, dass das nicht stimmt. Und das ist gut so. Natürlich soll man sich mit den Urteilen des EGMR und der EMRK auch kritisch auseinandersetzen. So, wie das der Bundesrat mit dem Urteil zu den Klimaseniorinnen getan hat - wobei er sich gleichzeitig zur Mitgliedschaft der Schweiz im Europarat und zum System der EMRK bekannt hat.

Man muss dabei die Relationen im Auge behalten: Die Schweiz wird selten vom EGMR verurteilt. Und von den Beschwerden, die gegen die Schweiz eingereicht werden, wird nur ein Bruchteil gutgeheissen - nicht einmal zwei Prozent.

Die Konvention und die Urteile des Gerichtshofs haben auch in der Schweiz die Grundrechte gestärkt und wichtige Impulse für die Entwicklung unseres Rechts gegeben. Gesetze mussten revidiert werden oder die Behörden mussten ihre Praxis ändern. Selbst bei Urteilen, die einst kritisiert wurden, ist heute breit anerkannt, dass sie zur Verbesserung unseres Rechtsstaates beigetragen haben.

Hoffen wir, dass sie das auch die nächsten 50 Jahre tun.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

50 Jahre Beitritt der Schweiz zur EMRK